Nichts hat den Wert der Arbeit so in Frage gestellt wie die Verheißung auf "anstrengungslosen Wohlstand" durch das Jonglieren mit Finanzprodukten. Die Krise hat die Ideologie als Irrweg entlarvt, schreiben Sigmar Gabriel und Michael Sommer in einem Gastbeitrag für die FAZ - und fordern zum Tag der Arbeit den grundlegenden Perpektivenwechsel.
Für die liberalen Vordenker des Kapitalismus war die Sache noch klar: „It is labour indeed that puts the difference of value on every thing“, schrieb John Locke schon 1690. Arbeit ist die Grundlage aller Wertschöpfung. Dieses Wissen ist bei Lockes heutigen Epigonen verloren gegangen. Die Fixierung auf die Kapitalmärkte und die unausgesprochene Hoffnung, durch das Jonglieren mit Finanzprodukten ließe sich „anstrengungsloser Wohlstand“ erreichen, hat die Welt in die schwerste Krise seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhundert geführt. Sie scheint überwunden, aber gebannt ist sie nicht. Nichts ist in diesem Hype der Finanzmarktorientierung mehr in Gefahr geraten als der Wert der Arbeit. Nicht nur im materiellen Sinn, sondern vor allem auch als Orientierungspunkt für die Entwicklung unserer gesamten Gesellschaft. Uns droht das Bewusstsein verloren zu gehen, dass es der Wert der Erwerbsarbeit ist, der Zusammenhalt und Wohlstand begründet. Der Tag der Arbeit Anlass genug, diesen Aspekt verstärkt in den Mittelpunkt der notwendigen Debatte über die Zukunft der Arbeitsgesellschaft zu rücken.
Die Wertschätzung von Arbeit und Leistung hat unsere Wirtschaft stark und international führend gemacht. Und dieses Arbeitsethos ist immer noch jeden Tag in Deutschland zu erleben. Er ist zu spüren bei den Facharbeitern, die in der Krise auf tarifliche Leistungen verzichtet haben, damit es mit ihrem Betrieb weiter geht. Er zeigt sich bei den Polizistinnen, Busfahrerinnen und Feuerwehrleuten, die im Schichtdienst auch nachts und am Wochenende den Menschen Sicherheit geben und dafür sorgen, dass unser Gemeinwesen funktioniert. Und wer einmal erlebt hat, wie sehr sich Pflegekräfte für ihre Patienten engagieren, der weiß, wie hoch das Berufs- und Arbeitsethos in Deutschland ist. Es muss uns die Schamesröte ins Gesicht treiben, dass einige den Pflegekräftemangel statt mit besserer Bezahlung mit Zuwanderung zu noch schlechteren Arbeitsbedingungen lösen wollen.
Die Menschen in Deutschland wollen arbeiten. Aber die Entwicklungen in Deutschland drohen dieses Arbeitsethos dauerhaft zu untergraben. Dagegen wenden sich Gewerkschaften und Sozialdemokratie. Die Arbeiterbewegung hat von Anfang an dafür gekämpft, dass die Arbeit als Quelle allen Reichtums und aller Kultur geachtet wird. Und dass die, die diese Arbeit verrichten, in Würde leben. Eine Selbstverständlichkeit ist dies noch immer nicht: Frauen erhalten im Durchschnitt ein Viertel weniger Lohn als ihre männlichen Kollegen, Minijobs verdrängen reguläre Arbeitsplätze, Leiharbeiter arbeiten für weniger Geld und zu schlechteren Bedingungen, Ältere werden aus den Betrieben gedrängt, Jüngere hangeln sich trotz guter Ausbildung oder Studium von Befristung zu Befristung. 1,3 Millionen Menschen in Deutschland verdienen mit ihrer Arbeit so wenig, dass sie als „Hartz-IV-Aufstocker“ zusätzlich auf staatliche Leistungen angewiesen sind. Gerade hier, im Niedriglohnbereich, ist vieles aus den Fugen geraten. Im Namen von Flexibilisierung und Deregulierung wurden Schutzmauern eingerissen, die gerade für Menschen mit geringerer Qualifikation unverzichtbar sind. Nirgendwo sonst ist die Entwertung von Arbeit so greifbar wie hier. Nirgendwo sonst ist der Arbeiterstolz, der dieses Land aufgebaut und zu Wohlstand geführt hat, so beschädigt wie bei jenen, die hart arbeiten und trotzdem nicht davon leben können.
Arbeit bedeutet Anstrengung. Aber Anstrengung wird nur erbracht, wenn damit realistische Hoffnungen auf ein besseres Leben verbunden sind. Und auch nur dann, wenn sich alle anstrengen und der Lohn der Anstrengung gerecht verteilt wird. Von all dem sind wir in Deutschland und in weiten Teilen Europas weit entfernt. Von guten und fairen Löhnen ebenso wie von einer sozial gerechten Verteilung des Wohlstands und der Lasten in unserer Gesellschaft. Mindestlöhne sind ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit. Aber damit sich Anstrengung lohnt und damit das Vertrauen in die Arbeitsgesellschaft wieder wächst, muss mehr geschehen. Dazu gehören Tariflöhne und soziale Sicherungssysteme, die auch wirklich helfen, wenn sie bei Krankheit oder im Alter gebraucht werden. Dazu gehört der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, in der Leiharbeit ebenso wie zwischen den Geschlechtern. Dazu gehört, dem Arbeitsmarkt wieder eine gerechte Ordnung zu geben, gerade im Niedriglohnbereich, wo in der Vergangenheit jegliche Ordnung verloren gegangen ist – zulasten der Beschäftigten. Die robuste Konjunktur und die günstige Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt bieten die Chance, wieder klare Regeln aufzustellen, die die Menschen vor Ausbeutung und Lohndumping schützen. Denn gut bezahlte und sichere Arbeit ist die Grundlage für Anstrengung, Innovation und langfristigen wirtschaftlichen Erfolg. Das muss wieder ins Zentrum von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft rücken!
Mehr Mitbestimmung am Haben und Sagen in der Gesellschaft und in den Unternehmen. Und eine gerechte Ordnung auf dem Arbeitsmarkt, die der Arbeit ihren Wert zurückgibt. Darum geht es. Und das ist nicht nur eine Frage des volkswirtschaftlichen Nutzens. Es geht auch um unsere innere Verfassung: Wer eine fortschrittliche Gesellschaft will, der muss den Wert des Menschen und den Wert seiner Arbeit wieder schätzen lernen. Denn Deutschland bleibt nur als Arbeitsgesellschaft zukunftsfähig.