Warum wir die Soziale Marktwirtschaft brauchen

Veröffentlicht am 02.04.2012 in Bundespolitik

Verliert die Politik den Machtkampf mit den Finanzmärkten? Lassen wir zu, dass in ganz Europa Sozialetats gekürzt werden statt die Verursacher der Schuldenkrise zur Kasse zu bitten? Nein, sagen Sigmar Gabriel, Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück! In einem gemeinsamen Appell fordern sie mehr Solidarität und Soziale Marktwirtschaft für Europa.
Der Beitrag erschien in der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, 1, April 2012.

Die anhaltende Finanzkrise wird immer mehr zur Bedrohung der europäischen Demokratien. Sie belastet das politische Klima in den Gesellschaften und zwischen den Regierungen. Sie belebt längst überwunden geglaubte nationale Vorurteile zwischen den Völkern, sie erschwert auch die Verständigung innerhalb der europäischen Parteienfamilien. Und sie spaltet die Gesellschaften.

Die Ungeduld in den Helfernationen wächst, ebenso der Widerstand gegen weitere Aufstockungen der Hilfeleistung. Dies geschieht nicht zuletzt, weil die Bundeskanzlerin in immer kürzeren Abständen erst Erhöhungen der finanziellen Belastungen für die Bundesrepublik ausschließt, um sie kurz danach als alternativlos im Bundestag einzufordern. Bislang ist noch jede von CDU/CSU und FDP markierte „rote Linie“ kurze Zeit später überschritten worden. Niemand darf sich wundern, wenn diese „europäischen Märchen“ in der Öffentlichkeit für Verwirrung und – schlimmer noch – für antieuropäische Regungen sorgen.

Kosten und Lasten gerechter verteilen

Und während Deutschlands finanzielles Engagement stetig wächst, fragen sich immer mehr Menschen, warum gleichzeitig für Bildung, soziale Sicherheit oder Infrastruktur immer weniger Geld zur Verfügung steht. Nicht zuletzt verstärkt sich der Eindruck, dass die hohen Kosten und Lasten zur Bewältigung der Finanzkrise 2008/2009 völlig ungerecht verteilt werden, weil eine Verursacherhaftung nach wie vor fehlt. Schließlich ist ein erheblicher Teil der europäischen Staatsschulden entstanden, um durch staatliche Krisenintervention den Bankensektor zu stabilisieren und die Unternehmen der Realwirtschaft mit ihren Arbeitsplätzen sowie die Sparguthaben der Bevölkerung vor den schlimmsten Folgen der Finanzmarktkrise zu retten.

Anders als die politische Rhetorik Angela Merkels unterstellt, sind große Teile der europäischen Staatsschulden nicht durch eine unverantwortliche staatliche Ausgabenpolitik entstanden, sondern als Folge der notwendigen Stabilisierung der Finanzmärkte und hilfreicher staatlicher Konjunkturprogramme. Nicht zuletzt Deutschland ist mit seiner Kurzarbeiterregelung und seinen Konjunkturprogrammen dafür das beste Beispiel. Der wirtschaftliche Erfolg dieser von Sozialdemokraten verantworteten Politik trägt jetzt am Arbeitsmarkt, aber auch beim Abbau staatlicher Verschuldung seine Früchte.

Europa droht weltpolitisch eine Randlage

Für uns Sozialdemokraten war von Anfang an klar: Wenn Griechenland nicht gerettet wird, könnte es zu einer Kettenreaktion im Süden Europas kommen. Der Teufelskreis aus Verschuldung, Arbeitslosigkeit und Rezession kann zu einem gefährlichen Strudel werden, der auch die Stärksten umreißt. Die Folge wäre die innere Spaltung der Union und das Scheitern des europäischen Projekts insgesamt.

Auf dem Spiel steht die politische Qualifikation Europas, an der Lösung der größten Zukunftsprobleme unseres Planeten – Frieden und Sicherheit, Klimaschutz, Rohstoffeffizienz, Wasserversorgung, Ernährung und Schutz der Menschenrechte – mitzuwirken. Wer soll Europa noch ernst nehmen, wenn es uns nicht einmal gelingt, die innere Zerreißprobe zu bestehen, staatliche Strukturen zu modernisieren, seine Industrie zu erneuern, den Bürgern mehr Chancen zu geben? Wer soll die EU noch ernst nehmen, wenn sie im Machtkampf mit dem entgrenzten Finanzkapitalismus klein beigibt? Bei künftigen Debatten über die großen Menschheitsthemen werden Amerika und Asien – genauer: USA und China – als Führungsmächte auftreten. Europa geriete weltpolitisch in eine Randlage.

Den "Raubtierkapitalismus" bändigen

Umso wichtiger ist es, dass das europäische Projekt auf Erfolgskurs bleibt. Gewiss: Europa kann scheitern, aber zwangsläufig ist das nicht. Im Gegenteil, vieles spricht dagegen. Im besten Fall werden die Demokratien Europas sogar gestärkt. Sie kriegen ihre Staatsverschuldung in den Griff, sie überwinden die verhängnisvolle Blasenökonomie ohne echte Wertschöpfung, es gelingt ihnen die Bändigung des „Raubtierkapitalismus“.

Europa kann Vorreiter einer nachhaltigen Ökonomie werden. Für realistisch halten wir die Möglichkeit, dass sich zunächst in Kontinentaleuropa die Euro-Länder auf ein neues supranationales Regelwerk mit Beschränkungen und Kontrollen auf den wichtigsten Finanzplätzen einigen. Auf dieser Basis könnten sie ein europäisches Modell errichten, das weltweit beispielgebend ist.

Die Krise ist Grund und Anlass genug, deren Hauptursachen zu korrigieren. Bis jetzt allerdings verweigert die konservative Mehrheit in der Europäischen Union unter der Führung von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy sich hartnäckig dieser Einsicht: Statt die systembedingten Kollisionen und die verhängnisvolle Rolle von Investment-Banken, Hedgefonds und Rating-Agenturen zu analysieren und entsprechende Steuerungsmechanismen zu schaffen, erklären sie die hochverschuldeten Staaten wie Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Italien zu Sündenböcken.

Die Schuldenbremse allein kann Europa nicht retten

Gewiss: Einige Staaten sind leichtfertig in die Schuldenfalle geschlittert. Doch die Konservativen in Europa unterschlagen bis heute, dass die von der Krise am meisten betroffenen Regierungen beim Schuldenmachen von den besten Adressen in Frankfurt, London und New York beraten und durch Verzicht auf angemessene Risikoprämien an billige Kredite gewöhnt wurden wie Süchtige an regelmäßigen Drogenkonsum.

Wir dürfen weder uns noch den Sanierungskandidaten etwas vormachen: Die Zeit des bedenkenlosen Schuldenmachens ist vorbei. Der fiskalische Problemberg ist zu lebensbedrohender Höhe angewachsen. Nicht zuletzt deshalb ist die „Schuldenbremse“ von uns Sozialdemokraten aktiv vorangebracht und in der Verfassung unseres Landes verankert worden.

Allerdings ist es ein Irrglaube, allein durch Schuldenbremsen und drastisch reduzierte Staatsausgaben könnten sich die europäischen Mitgliedstaaten „am eigenen Schopf aus dem Schuldensumpf“ herausziehen. Das Beispiel Griechenland zeigt, wie schwierig es ist, eine Haushaltssanierung zu erreichen, wenn die wirtschaftliche Entwicklung des Landes zusammenbricht. Wer die Ziele des Fiskalpakts ernst nimmt, muss auch Investitionen in Wachstum und Beschäftigung ermöglichen. Hier liegt der zentrale Unterschied zwischen unseren Vorstellungen und den „Münchhausen-Konzepten“ von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy. Ihre Verengung auf eine reine Austeritätspolitik vergrößert die wirtschaftlichen und finanziellen Probleme in Europa.

Fiskalpakt muss um einen "Marshall-Plan" ergänzt werden

Deshalb muss der Fiskalpakt um eine nachhaltig wirksame Wachstumspolitik ergänzt werden. Dafür können wir die Europäische Investitionsbank ebenso nutzen wie die bislang ungenutzten EU-Strukturfonds, sofern wir auf die sonst üblichen Eigenanteile der Empfänger-Länder verzichten. Beginnen sollten wir mit einem Sofortprogramm gegen die dramatisch anwachsende Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Wenn junge Menschen Europa als „ihr Projekt“ annehmen sollen, brauchen sie eine realistische Perspektive für ein selbstverantwortetes Leben.

Wir kämpfen dafür, dass prekären Euro-Staaten wie Griechenland und Portugal eine wirtschaftliche Perspektive eröffnet wird. Ein Fiskalpakt ohne Wachstumsimpulse und administrative Aufbauhilfen mit dem Charakter eines „Marshall-Plans“ ist völlig unzureichend. Fiskalunion und Investitionen gehören zusammen. Das eine ohne das andere ist falsche Politik.

Statt durch eine schlichte Kreditfinanzierung soll dieser neue „Marshall-Plan“ durch eine Umsatzsteuer auf Finanzprodukte („Finanztransaktionssteuer„) verwirklicht werden. Neue Schulden und Kredite für Wachstumsinitiativen wären der falsche Weg.

Und mehr noch: Es bedarf dringend eines Zeichens an die europäischen Bürgerinnen und Bürger, dass bei der Lastenverteilung die wesentlichen Verursacher der Finanzmarktkrise angemessen beteiligt werden. Das wissen auch viele Mitglieder der deutschen Bundesregierung. Allein die Selbstblockade innerhalb der CDU/CSU/FDP-Koalition führt dazu, dass Deutschland in Europa ständig zweideutige Signale sendet, aber keine Allianz derer zustande bringt, die vorangehen wollen. Es ist nicht zu viel verlangt, von der Bundesregierung die Aufgabe dieser Selbstblockade zu erwarten, um im Rahmen des Fiskalpaktes auch ausreichend Finanzmittel für die dringend notwendigen Wachstumsinitiativen zu generieren.

Es geht also bei den anstehenden Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und uns nicht darum, dass CDU/CSU und FDP der SPD irgendwie „entgegen kommen“. Es geht nicht um parteipolitische Machtspiele. Es geht darum, durch die Kombination von Schuldenbremsen, Wachstumsinitiativen und einer angemessenen Beteiligung der Finanzmärkte den „Fiskalpakt“ überhaupt wirksam werden zu lassen. Wer sich dem verweigert, der wird erleben, dass die europäischen Schulden trotz des Fiskalpakts weiter wachsen.

Uns geht es um die Neubregründung der Sozialen Marktwirtschaft

Uns geht es um Weichenstellungen. Die Kernfrage lautet: Wie können wir die doppelte Krise Europas und des ungezähmten Kapitalismus dazu nutzen, unsere Vorstellungen von einer gerechten Gesellschaft stärker zur Geltung zu bringen?

Unsere Antwort ist die Neubegründung des erfolgreichsten Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells der europäischen Nachkriegsgeschichte: der Sozialen Marktwirtschaft. Dieses deutsche Erfolgsmodell ist durch den Marketingfeldzug der neoliberalen Ideologie und durch die Entgrenzung der Finanzmärkte sträflich vernachlässigt und teilweise planmäßig demontiert worden.

Die soziale Marktwirtschaft, wie wir sie verstehen, ist eine Gegenthese zu einer Gesellschaft , in der der Gewinner alles bekommt und Solidarität ein Fremdwort ist. Unsere Vorstellung der Marktwirtschaft ist die eines Marktes der Vielen gegenüber einem elitären Marktplatz der Wenigen. In der Sprache der neuen sozialen Protestbewegungen gesagt: Die soziale Marktwirtschaft ist die Gesellschaftsform der 99 Prozent gegen den Machtanspruch des 1 Prozent.

Demokratie und soziale Sicherheit haben Vorrang

Auch Angela Merkel hat sich immer wieder mal zur Sozialen Marktwirtschaft bekannt. Doch zugleich wirbt sie für eine „marktkonforme Demokratie“, eine Formel von verräterischer Eindeutigkeit. Im Klartext bedeutet das nichts anderes als: Die Demokratie soll sich gefälligst den Märkten und deren Bedürfnissen anpassen! Wir halten das für eine geradezu beklemmende Vision. Das ist das Gegenteil einer freien, demokratischen Gesellschaft. In unserer Rangordnung der politischen Güter haben Demokratie und soziale Sicherheit Vorrang. Es geht um die Rückkehr zum „demokratiekonformen Markt“, um die Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft, die Wiederherstellung von gesellschaftlicher Verantwortung und die Entwicklung von Gemeinsinn in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Wir machen uns nichts vor: Die Idee eines handlungsfähigen Staates in einer sozial verpflichteten Marktwirtschaft, wie wir sie vertreten, stößt auf Gegenwehr und Widerspruch, ganz zu schweigen von den notwendigen Regulierungen der Finanzmärkte und einer Transaktionssteuer, die wir für unverzichtbar halten.

Dabei geht es um die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft als Basis unseres Wohlstands. Und um die Wiederherstellung des „Sozialen“ in der Marktwirtschaft. Dies ist die Basis für eine freie und friedliche Gesellschaft, in der die Fliehkräfte gebändigt und die Kräfte des Zusammenhalts gefördert werden.

Was wir wollen, ist eine Europäisierung der Sozialen Marktwirtschaft.

 
 

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