"Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn von 8 bis 9 Euro."

Veröffentlicht am 04.08.2011 in Bundespolitik

Der SPD-Chef Sigmar Gabriel spricht mit der Bild am Sonntag über Niedriglöhne in Deutschland, macht Kanzlerin Merkel ein Angebot und fordert Konsequenzen aus dem Terror in Norwegen.

Bild am Sonntag: Die Terror-Anschläge in Norwegen vor einer Woche haben die ganze Welt erschüttert. Welche Lehren müssen wir daraus auch in Deutschland ziehen?

Sigmar Gabriel: Die erste und bitterste Lehre ist, dass wir durch keine Maßnahme der Welt ausschließen können, dass auch bei uns ein Wahnsinniger zum Massenmörder wird. Wir dürfen jetzt nicht so tun, als ob man mit einem gigantischen Sicherheitsapparat solche Anschläge mit absoluter Gewissheit ausschließen könnte.

Wie groß ist Ihre Sorge vor Nachahmern in Deutschland?

Der Anschlag in Oslo galt ja einem sozialdemokratischen Jugendzeltlager. Ich habe deshalb gerade ein solches Treffen der internationalen Sozialdemokratie in Österreich mit 2.500 Teilnehmern besucht und war erschrocken, mit welchem Sicherheitsaufgebot das jetzt geschützt werden muss. Doch in einer Situation, in der es verrückte Nachahmer geben könnte, führt kein Weg daran vorbei. Gleichzeitig sollten wir uns unsere Lebensweise durch Terroristen und Kriminelle nicht kaputt machen lassen. Die Reaktion der Norweger, die demonstrativ an der offenen Gesellschaft festhalten, ist für mich daher vorbildlich.

Das Internet gilt als Ort größter Freiheit. Dort können ganz offensichtlich bedenkliche und auch gefährliche Inhalte veröffentlicht werden, die in anderen Medien Polizei und Justiz auf den Plan rufen würden.

Polizei und Staatsanwaltschaften brauchen deutlich mehr qualifiziertes Personal, um im Internet und in den Sozialen Netzwerken Präsenz zu zeigen. Dafür müssen wir ihnen endlich mehr Geld zur Verfügung stellen. Doch auch das Verhältnis der Internet-Comunity zu Polizei und Justiz muss sich ändern. Gelegentlich werden Hetze, Beleidigungen oder gar Bedrohungen als eine Art Folklore hingenommen. Hier haben die Nutzer des Internets eine Verantwortung dafür, dass solche Dinge zur Anzeige gebracht werden. In den sozialen Netzen müssen auch soziale Regeln gelten. Aufrufe zum Rassenhass oder gar zu Mordtaten sind auch im Internet strafbar. Aber wir dürfen nicht so tun, als sei „das Internet“ schuld an der Wahnsinnstat von Norwegen.

Brauchen wir eine Vorratsdatenspeicherung, um die Spur zu Hetzern und anderen im Internet besser aufnehmen zu können?

Da ist Norwegen ein gutes Beispiel. Dort existiert eine Vorratsdatenspeicherung auf der Grundlage der EU-Regeln. Die Anschläge selbst konnten damit selbstverständlich nicht verhindert werden. Aber die Strafverfolgung wurde sehr schnell aufgenommen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir in Deutschland eine verfassungsgemäße Umsetzung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung brauchen und auch bekommen werden.

In Oslo und Winnenden kamen Waffen zum Einsatz, die die Täter legal besaßen. Sollten wir den Besitz großkalibriger Waffen durch Privatpersonen verbieten?

Vieles spricht dafür, das zu tun. Allerdings warnen Sicherheitsexperten auch, dass bei einem solchen Verbot sofort ein Schwarzmarkt für großkalibrige Waffen entstehen würde. Darüber müssen wir also in Ruhe beraten. Ganz eindeutig brauchen wir aber schnell ein bundesweites Waffenregister, in dem alle Inhaber von Waffenbesitzkarten erfasst werden. Bislang weiß die Polizei bei entsprechen Einsätzen häufig nicht, welche Waffen jemand hat. Außerdem sollte der Bundesinnenminister endlich dafür sorgen, damit Blockiersysteme an automatischen Waffen Pflicht werden.

Sollte ein NPD-Verbot erneut angegangen werden?

Ich bin schon lange für ein NPD-Verbot, weil man niemandem erklären kann, dass deren Hetze auch noch durch Steuergeld unterstützt wird. Diese Forderung ist aber ganz unabhängig von den Anschlägen in Norwegen.

Sie haben in dieser Woche einen Zusammenhang hergestellt zwischen den Thesen Ihres Parteifreundes Thilo Sarrazin zur Integration und den Anschlägen in Norwegen. Ist das wirklich gerechtfertigt?

Ich habe einen solchen Zusammenhang nicht hergestellt. Aber bereits Helmut Schmidt hat in der Debatte um den Linksterrorismus der RAF darauf hingewiesen, dass es auch immer um das gesellschaftliche Klima geht, das verbreitet wird. In einem aufgeheizten und aufgehetzten Klima gedeihen Radikalismus und Gewalt besser. Diese Lehre Helmut Schmidts gilt auch heute noch für den Terrorismus von rechts oder links. Deshalb ist es so wichtig, dass wir Mitmenschlichkeit und Toleranz tatsächlich vorleben.

Ist es aber nicht vielmehr so, dass die unbestrittenen Versäumnisse in der Integrations- und Ausländerpolitik für das Anwachsen von Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus ursächlich sind?

Wenn das so wäre, dann müssten ja die unbestreitbaren Erfolge der Integration von Zuwanderern, die es ja in Deutschland unvergleichlich häufiger gibt als die Misserfolge, überall den Rechtsextremismus verhindern. In Wahrheit suchen sich Extremisten heute diesen und morgen jenen Grund für ihre Gewalttaten, denn im Kern geht es ihnen ja um die Zerstörung der Demokratie selbst. Allerdings versuchen diese Extremisten immer das jeweilige gesellschaftliche Klima auszunutzen, um sich als die selbsternannten Vollstrecker der angeblich schweigenden Mehrheit darzustellen. Die meisten Zulauf haben in Deutschland Rechtsextreme übrigens ausgerechnet dort, wo es nur ganz wenige Zuwanderer gibt. Es wird zur perversen Entschuldigung für rechtsradikale Gewalttaten, wenn wir anfangen dafür nicht die rechtsextremen Täten und ihre propagandistischen Hetzer verantwortlich zu machen, sondern deren Opfer.

Die Euro-Krise ist noch nicht vorbei, da droht eine massive Dollar-Krise. Wie gefährlich wäre eine auch nur vorübergehende Zahlungsunfähigkeit der USA?

Eine Zahlungsunfähigkeit der USA wäre nicht nur eine Katastrophe für das Land selbst, sondern für die ganze Weltwirtschaft. Man kann nur hoffen, sich die radikalen Ideologen der sogenannten „Tea-Party“ Bewegung unter den Republikanern nicht durchsetzen. Diese Ideologen bekämpfen mit Schaum vor dem Bund den US-Präsidenten Obama und dafür ist ihnen jedes Mittel Recht. Wir können nur hoffen, dass es unter den Konservativen noch genug Verantwortungsbewusstsein gibt. Denn mit der größten Volkswirtschaft der Erde treibt man keine parteipolitischen Spielchen . Das kann die ganze Welt verdammt viel kosten und ins Chaos stürzen.

Die SPD hat der Kanzlerin Unterstützung angeboten für den Fall, dass die Euro-Krise außer Kontrolle gerät und sie ohne politische Mehrheit wäre. Gilt das auch für den Fall, dass die USA die Weltwirtschaft in eine Krise stürzen?

Für diesen Fall gilt unser Angebot um so mehr Viele Menschen haben Angst um ihr Erspartes, ihre Altersversorgung. Wir wollen eine gute Lösung und suchen nicht den billigen parteipolitischen Vorteil. Die FDP muss mit ihrem Ruf nach Steuergeschenken ohne Gegenfinanzierung und ihrer Euro-Blockade bei einigen Abgeordneten aufpassen, dass sie nicht zur "Tea-Party-Partei" wird.

Wären Sie auch zur Neuauflage der Großen Koalition mit Angela Merkel bereit?

Darum geht es ja nicht. Auch das wäre ja nur Parteitaktik. Wir meinen es wirklich in der Sache ernst: Die Politik muss eine Lösung für die Probleme finden, auch weil viele Menschen das Gefühl haben, dass wir als Politiker nicht mehr Herr des Verfahrens, sondern Getrieben der Finanzmärkte sind. So wird die Krise des Euro zu einer Krise der Demokratie. Deshalb wird die SPD eine vernünftige Rettung des Euro genauso mittragen, wie das, was nach einer möglichen Eskalation der Lage in den USA erforderlich sein könnte. Und wir werden dafür weder vorgezogene Neuwahlen noch eine Regierungsbeteiligung fordern.

Aus den Reihen der Union kommt der Vorschlag, den Spitzensteuersatz anzuheben, um die Steuerentlastungen kräftiger ausfallen zu lassen. Sehen Sie darin eine Basis für eine Verständigung auch im Bundesrat?

Das ist endlich mal ein guter Vorschlag zur Steuerpolitik aus der CDU. Wenn die Koalition aus Union und FDP sich dazu durchringt, die Steuern für Spitzenverdiener zu erhöhen, um damit Entlastungen der unteren Einkommen zum Beispiel durch die Senkung von Sozialabgaben zu finanzieren, ist die SPD sofort verhandlungsbereit. Dann würden diese Entlastungen auch nicht auf Pump finanziert und der Schuldenabbau wäre auch nicht gefährdet. Klar ist: Steuersenkungen bringen für Geringverdiener nichts. Denn die zahlen keine Einkommenssteuer, wohl aber die vollen Sozialabgaben.

In den Jahren 2000 bis 2010 sind die Löhne der Geringverdiener um 20 Prozent gesunken. In diesem Zeitraum hat die SPD neun Jahre regiert und unbestritten wichtige Grundlagen für den Aufschwung gelegt. Steht die SPD auch heute noch zu ihrer Verantwortung für beides?

Wir haben Zeit- und Leiharbeit in einer Situation ermöglicht, in der die Arbeitslosigkeit hoch war. Wir wollten, dass die Überstunden der einen in die Arbeitsplätze der anderen umgewandelt werden. Inzwischen ist das genaue Gegenteil passiert: Feste Arbeitsplätze werden in unsichere und schlecht bezahlten Jobs umgewandelt. Über die Jahre ist auch mit Hilfe von Scheintarifverträgen und Scheingewerkschaften ein riesiger Niedriglohnsektor geworden. Mehr als 25 Prozent der deutschen Arbeitnehmer arbeiten für miese Löhne und ohne Sicherheit. Das gab es in Deutschland noch nie!

Was wollen Sie dagegen unternehmen?

Jahrelang hat die Politik den Gewerkschaften Lohnzurückhaltung empfohlen. Jetzt müssen wir sie zu höheren Tarifabschlüssen ermutigen. Wir brauchen zweitens einen gesetzlichen Mindestlohn von 8 bis 9 Euro. Und ein Gesetz, das für gleiche Arbeit auch gleichen Lohn sichert – egal ob jemand fest beschäftigt oder in Zeit- und Leiharbeit ist. Außerdem sollten öffentliche Aufträge mit Steuergeldern nur an Firmen gehen, die sich an Tarifverträge halten. Die Betriebsräte brauchen ein Mitbestimmungsrecht über die Zahl der Leih- und Zeitarbeiter in ihren Firmen. Und zu guter Letzt sollten wir auch den Geringverdienern Mut machen: tretet in eine DGB-Gewerkschaft ein und lasst Euch beraten. Und wo es geht: streitet und streikt mit den Gewerkschaften für bessere Löhne.

Haben Sie die Sorge, dass in Deutschland sich eine Unterschicht herausbildet, die von Politik und Gesellschaft nicht mehr erreicht wird?

In Deutschland existiert längst eine Unterschicht, die von der Politik nichts mehr erwartet. Und deshalb brauchen wir ein Programm “Zweite Chance”, mit dem wir denen helfen, die aus Hartz IV heraus wollen. Nur ein Beispiel: Ich habe jüngst eine Türkin getroffen, die mit 40 Jahren ihren Hauptschulabschluss und mit 41 ihren Realschulabschluss gemacht hat. Der Frau, die zudem vier Kinder hat, hat niemand geholfen. Ihr Mann hat sie verlassen, hat ihr keinen Unterhalt gezahlt. Doch jetzt macht sie eine Berufsausbildung. Das ist kein Einzelfall. Für solche Menschen, die sich anstrengen und etwas leisten, muss der Staat etwas tun.

Was meinen Sie konkret?

Ich rate uns zu einem sozialen Patriotismus. Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmer, wirtschaftlicher Erfolg, der zugleich soziale Sicherheit schafft: das ist doch eine deutsche Erfolgsgeschichte. Viele selbsternannte Experten haben uns doch gesagt: Macht es wie die USA und setzt nur auf den Markt. Oder wie Großbritannien: Vergesst die Industrie, die Zukunft liegt nur in den Dienstleistungen. Wir haben unser Modell verteidigt und sind deshalb besser durch die Krise gekommen als viele andere Länder. Wir dürfen wieder stolz darauf sein.

Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Renate Künast, hat am vergangenen Sonntag mitgeteilt, dass sie ihren langjährigen Lebensgefährten jetzt geheiratet hat. Ein Vorbild für Sie und Ihre Partnerin?

Erst einmal einen herzlichen Glückwunsch an Renate Künast! Für den Weg, den sie gewählt hat, nämlich erst zu heiraten und dann die Öffentlichkeit zu unterrichten, habe ich viel Sympathie. Der wäre in der Tat ein Vorbild für uns.